Misogynie in der Medizin
08.03.2024
Die toxische Kultur der Frauenfeindlichkeit ist de facto in jedem Gesundheitssystemen tief verankert. Ich habe als Ärztin beide Formen, den feindseligen und den wohlwollenden Sexismus erlebt. Das Problem der allgegenwärtigen Frauenfeindlichkeit betrifft den gesamten klinischen und akademischen Bereich der Medizin. Bei sexueller Diskriminierung geht es um die Macht: Das Ziel des Täters (meistens, aber nicht ausschließlich, eines Mannes) ist es das Opfer, (meistens eine Frau) zu objektivieren, herabzusetzen, auszuschließen, und zu zwingen, Macht über sie auszuüben. Dieses Verhalten ist moralisch inakzeptabel und stellt ein großes Hindernis dar, dass Ärztinnen davon abhält, ihren rechtmäßigen Platz in der Medizin einzunehmen. Täter, die sexistisches oder frauenfeindliches Verhalten in der Medizin ausüben, werden in den seltensten Fällen zur Verantwortung gezogen. Über die vielen Jahre habe ich mit schrecken beobachtet wie Ärztinnen, insbesondere die akademische- und Spitalsmedizin aufgrund von sexualisierter Diskriminierung verlassen, da diese geduldet wird.
Trotz Zunahme der Lippenbekenntnisse über die Notwendigkeit der Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin, Frauendiskriminierung bleibt bestehen, insbesondere in akademischen Institutionen mit steilen Hierarchien und in historisch männerdominierten Fächern, wie Chirurgie oder Kardiologie. Ärztinnen weltweit verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen und werden seltener mit Führungspositionen betraut. Ärztinnen mit Migrationshintergrund werden doppelt so häufig diskriminiert. Die Evidenz zur Ärztinnendiskriminierung ist eindeutig und es werden gerade laufend neue Berichte und Statistiken mittlerweile auch in hochrangigen medizinischen Journalen publiziert. Die meisten Ärztinnen sind von den Ergebnissen nicht überrascht, da diese genau ihre eigenen Erfahrungen wiederspiegeln. Bestehende Doppelstandards erschweren die Karrierechancen für Frauen zusätzlich: was einem Arzt als „assertiv und selbstbewusst“ zugeschrieben wird, wird bei einer Ärztin als „aggressiv und unprofessionell“ wahrgenommen. Ärztinnen, die gegen veraltete Geschlechterstereotypen zu kämpfen versuchen, werden im Regelfall bestraft.
Interessant und gleichzeitig schockierend erscheint die Tatsache, dass während Ärztinnen über hohe Diskriminierungsraten berichten, empfinden männliche Kollegen der gleichen klinischen Abteilungen Geschlechtergerechtigkeit und wenn sie von Frauendiskriminierung erfahren, suchen sie oft nach alternativen Erklärungen. Sehr problematisch erscheint die Tatsache, dass erlebte und erzählte Geschichten über Sexismus und Frauendiskriminierung in der Medizin Männer an den Entscheidungstischen weiterhin überraschen und diese als schockierende Einzelfälle des ungesunden hierarchischen Systems wahrgenommen werden.
Zusätzlich zu den erschwerten Ausgangsbedingungen haben Medizinerinnen nicht die gleichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten wie Mediziner. Somit ecken sie öfters an, da sie kämpfen müssen. Das Anecken ist jedoch in der Regel mit harten Strafen - Repressalien verbunden. Je weniger privilegiert die unangepaßten Ärztinnen sind (familiäre Herkunft und Netzwerk, Status und Position des Ehepartners innerhalb der Medizin, Migrationsstatus, soziale Schicht), desto härter scheint die Bestrafung. Die Vorgesetzten legen dann gerne einer Querulantin Steine in den Weg. Da für viele Frauen dies keine angenehme Vorstellung ist, entwickeln sie mit den Jahren unbewusst oder bewusst eine Strategie, um nicht gebremst zu werden: sie wollen gefallen, reinpassen, in dem bestehenden System funktionieren. Dadurch erwecken sie den Eindruck, dass sie belohnt werden. Auch geben viele Ärztinnen zu, dass Anpassung als Frau, also der pure Opportunismus, der einzig mögliche Weg ist um karrieretechnisch zu überleben. Es geht also um das "Überleben" und nicht um Potenzialentwicklung oder sogar Erreichung der höchsten Ziele.
Frauenfeindlichkeit in der Medizin, insbesondere in dem hoch kompetitiven akademischen Bereich, zeigt sich oft in Form von Mikroaggressionen. Diese Form von Misogynie ist schwierig zu identifizieren und nachdem sie nicht selten raffiniert eingesetzt wird, stellt sie eine Herausforderung dar. Wenn Ärzte mit den Vorwürfen des verdeckten Sexismus konfrontiert werden, verteidigen sie sich meist gelassen, und behaupten, dass es gut gemeint war. Das schädigende Verhalten bleibt für die Täter ohne Konsequenzen. Dagegen fühlen sich die Opfer manipuliert, verwirrt und demoralisiert. Nicht selten wird von den Tätern die „falsche Wahrnehmung“ der Situation durch die Betroffene als Erklärung für „die Missverständnisse“ angegeben, so dass die Opfer Fragen nach eigener Vernunft sich stellen müssen bis zum Phänomen von „Gaslighting“, wenn Ärztinnen so gezielt in ihrer Wahrnehmung verunsichert werden, dass sie nicht mehr zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden können und zusammenbrechen. Wenn die Situation eskaliert, wird nicht selten zusätzlich durch den in der Hierarchie höherrangigen Täter Mobbing ausgeübt, und die Statistiken zeigen, dass einige KollegInnen auf der Seite des Stärkeren auch zu Tätern werden können oder als bloße Zuschauer sich aus der Sache raushalten. Es ist fast eine Regel, dass in hochkompetitiven, hierarchischen, toxischen Systemen an Zivilcourage und Rückgrat fehlt. Im schlimmsten Fall, kommt es zum Täter-Opfer Umkehr und die Betroffenen verlassen die Institution, auch um die eigene Gesundheit zu schützen.
Wenn Ärztinnen trotzt vulnerablen Positionen innerhalb der Hierarchie die frauenfeindliche Kommentare oder das Verhalten ansprechen und diese kategorisch ablehnen, führt diese Haltung jedoch rasch dazu, dass sie mit verschlüsselten Begriffen abgestempelt werden („sie ist schwierig“, „sie eckt an“, „sie ist emotional“, „sie hat keinen Sinn für Humor“, „sie ist eine Querulantin“), welche mit „nicht (Männer-) Teamfähig“ übersetzt werden, was die Aufstiegschancen von ehrgeizigen Mitbewerberinnen mindert. Die meisten Männerteams akzeptieren also die Frauen nur wenn sie bereit sind zu flirten und den Männern deren Überlegenheit ständig zu bestätigen. Aus Sorge vor Stigmatisierung (zu weiblich emotional versus Man-Frau) entscheiden sich einige Ärztinnen für Ehrerbietung und gegen die Transparenz, da die letztere innerhalb von vielen Kliniken als Synonym für Whistleblowing und mangelnde Loyalität verwendet wird. Frauen, die für Transparenz innerhalb von Institutionen plädieren werden oft schweigend ausgegrenzt. Diese Marginalisierung der mutigen Ärztinnen wird unterschwellig und für die Umgebung fast unbemerkt initialisiert. Wenn sich ungerecht behandelte Ärztinnen an ihre weibliche Vorgesetzte oder Mentorinnen widmen, die in dem System groß geworden sind, und nach deren Rat suchen, hören sie immer wieder die gleichen Ratschläge, die in Empörung versetzen: „Lass dich nicht vom Wichtigen ablenken“, „Mache deine Sachen weiter und akzeptiere die Misogynie, da wir das System nicht verändern können“, „Vergiss die Übergriffe und Ungerechtigkeit und versuche einschmeicheln, so wirst du in Ruhe gelassen“, und „Vor allem tue so als ob Du nicht ehrgeizig wärest, so fühlen sich die Männer nicht bedroht“. Diese Ratschläge sind jedoch keine Option für die jüngere weibliche Generation, die sich sehr nach Veränderung und Gerechtigkeit sehnt und den blinden Opportunismus kategorisch ablehnt.
Als ob die bestehende Situation der Frauen im Spitalswesen nicht schwierig genug wäre, hat die Pandemie zusätzlich zu einem Exodus von Frauen aus den Spitälern beigetragen: zu dem Kampf gegen Patriarchat ist noch ein zweiter Gegner dazugekommen, COVID-19 und die damit verbundene Zunahme an familiären Pflichten. Dies hat bereits erhebliche Auswirkungen auf die Patientenversorgung und den Fortschritt der medizinischen Forschung. Immer mehr groß angelegte Studien und Analysen suggerieren eine Korrelation zwischen dem Geschlecht der Ärzte und der Qualität der Behandlung: Wenn PatientInnen von Ärztinnen behandelt oder operiert wurden, stiegen ihre Überlebenschancen statistisch signifikant. Auch wenn die individuellen Fähigkeiten von ÄrztInnen variieren und es exzellente Ärzte beider Geschlechter gibt, die Daten geben einen Hinweis darauf, dass Ärztinnen statistisch mehr Zeit für Patientengespräch aufwenden, öfters richtlinienkonform handeln und das Nutzen/Risiko der Eingriffe besser bewerten. Jedoch es werden noch immer aufgrund einer langen Geschichte von Sexismus in der Medizin deren Beiträge übersehen, heruntergespielt, gestohlen, sogar gelöscht. Kürzlich wurde in den USA eine Kampagne „#GiveHerAReasonToStay in Healthcare“ ins Leben gerufen, um die Abwanderung von Frauen aus der Medizin zu verringern. Trotzt vielen Initiativen, wie Gender Mainstreaming-Maßnahmen, Mentoring-Programmen, Frauenförderplänen, das Phänomen Leaky Pipeline (der absinkende Frauenanteil mit den Karrierestufen trotz zunehmend höherer Studienabschlüsse von Frauen) bleib bestehen. Der Ausstauch mit Experten suggeriert sogar, dass wir gerade einen Rückschlag erleiden. Institutionen investieren zwar in Frauenfördermassnahmen in den unteren Karrierestufen, das Phänomen der gläsernen Decke zwingt jedoch Frauen dazu das Umfeld zu verlassen. Obwohl die Geschlechter Diskriminierung ein behebbares Problem darstellt, stehen wir oft mit den Rücken zur Wand. Das Ergebnis sind nicht ausgeschöpfte Potentiale, verschwendete Ressourcen und fehlende Rollenbilder.
Damit sich etwas ändert und das Bewusstsein über das alltägliche Problem geschaffen wird, müssen die Geschichten über die geschlechtsspezifische Diskriminierung erzählt, gehört und vor allem geglaubt werden. Die institutionelle Nichtvergeltungskultur für den Rang höheren Täter ist einer der Gründe dafür, dass Frauen ihre Erlebnisse nicht melden. Die Entscheidung ihre Geschichten zu erzählen ist mit enormen und sehr berechtigten Ängsten verbunden: eine bestehende Zensur für das Thema und im Regelfall darauf folgende Vergeltung der Opfer seitens des brutalen Systems hält die Frauen von dieser Entscheidung ab. Oft erzählen Ärztinnen oder Pflegerinnen nur unter sich wie sie verbal, visuell oder physisch von ihren Vorgesetzten, Rang höheren Kollegen, oder sogar Patienten sexuell übergriffen worden sind. Sehr selten teilen Kolleginnen ihre eigenen Erfahrungen in sozialen Medien (#MeTooHealthcare, #MeTooSTEM, #TimeIsUpMedicine). Diesen Schritt gehen sie aber meistens erst wenn sie sich in eine sichere Position gebracht haben oder längst entschieden haben den Arbeitgeber zu verlassen. Von geschlechtsspezifischer Diskriminierung betroffene Ärztinnen haben zwar die Möglichkeit die Missstände aufzuzeigen, jedoch gefährdet dies massiv ihren Ruf und den weiteren beruflichen Aufstieg und ist mit einer mickrigen Wahrscheinlichkeit für eine positive Veränderung verbunden. Erfolgsstories fehlen de facto. Die zweite Option, Schweigen, führt oft zum Burnout, Depression, posttraumatischem Syndrom oder einer anderen Art von seelischem Trauma. Tatsächlich zeigen multiple internationale Studien und Umfragen ganz eindeutig, dass bestehende Strukturen und Gremien, die vorgeben, gegen sexuelle Belästigung oder Diskriminierung vorzugehen, dem Schutz von Institutionen selbst dienen und nicht darauf ausgelegt sind, Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gibt zwar Gesätze die sexuelle Diskriminierung verbieten, jedoch durch die „Aktenschrank-Compliance“ der Institutionen zeigt sich in der gelebten Praxis, dass fast jede formelle Beschwerde innerhalb der Institution zu keiner sinnvollen Lösung oder Bestrafung der Täter führt, insbesondere wenn der Täter in der Hierarchie höher als das Opfer steht.
Die Statistiken und Zahlen belegen zwar die Misogynie in der Medizin, zur faktischen Veränderungen führen sie aber kaum. Erst die laut erzählten persönlichen Erlebnisse über die Frauendiskriminierung in der Medizin, die oft berechtigt wütend machen dürfen, sind ein notwendiger Treibstoff um Veränderungen voranzutreiben. Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin wird erst ihren Platz einnehmen zu versuchen, wenn das Mainstream-Dialog von Geschichten über Sexismus überschwemmt wird damit der Zwang zur Abrechnung mit dem bestehenden System entsteht, sodass es zu einem produktiven Dialog kommen kann.
Die Lösung für das globale Problem ist der Mut zur Veränderung. Solide Richtlinien, Rechenschaftspflicht, Verantwortlichkeit und Transparenz sollen eine Grundlage bilden. Die Perspektive der Opfer soll in die Strategien gegen sexualisierte Diskriminierung verschiedener Gesundheitssysteme einfließen. Was jedoch wirklich zählt ist Führungsmut – der Mut, eine historisch hierarchische Denkweise und toxische Kultur abzulegen und die Null Toleranz Kultur zu prägen. Diesen Mut hat kürzlich die Führungsebene von dem National Institues of Health (NIH) in den USA gezeigt. Die Ermittlungen bei unzähligen Beschwerden über sexualisierte Diskriminierung in der Forschung führten in dutzenden Fällen zum Entzug von Forschungsgeldern, zur Entfernung aus der Gutachtertätigkeit bis zu den Disziplinarmaßnahmen inklusive Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses an den Universitäten.
Damit Frauen sich im medizinischen Arbeitsumfeld sicher, willkommen, wertgeschätzt und gerecht behandelt fühlen, müssen die Strukturen des gesamten Gesundheitssystems auf allen Ebenen überarbeitet werden. Da die Zeit davon läuft, soll die schon lang ersehnte Veränderung mutig und entschlossen angegangen werden, damit angehende ÄrztInnen und Gesundheitskräfte in einem positiven Arbeitsumfeld beruflich wachsen können, mit dem Höchstziel für die PatientInnen die bestmögliche Betreuung zu gewährleisten.